Ernährungssicherheit – Hintergründe und Lösungen

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Der Beginn des Ukraine-Krieges am 24. Februar 2022 versetzte die Welt in einen Alarmzustand. Sind wir in Europa auch von Lebensmittelknappheit betroffen? Ein Versuch, den Krisen auf den Grund zu gehen und Lösungen aufzuzeigen. 

 

Die Welt erlebt gerade die größte humanitäre Krise seit dem zweiten Weltkrieg. Laut UN-Welternährungsprogramm (WFP) stieg die Zahl der Hungernden aufgrund von Klimakrise, Corona und kriegerischen Konflikten 2021 sprunghaft an auf 811 Millionen Menschen. Ein Großteil der russischen und ukrainischen Exporte, die 30 Prozent der weltweiten Weizenmenge ausmachen, ist weggebrochen. Dass diese vorrangig in ärmere Länder nach Asien und Afrika gingen und sich auch die Notreserven der Hilfswerke hauptsächlich aus diesen Mengen speisten, wiegt doppelt schwer. Durch Corona war die Armut bereits rapide gestiegen, und die Staatsschulden stiegen weltweit um 30 Billionen Dollar – was zu hohen Inflationsraten führte.

 

Die letzte große Hungersnot gab es im Zuge der Finanzmarktkrise 2008. Damals hat laut INKOTA die Verdopplung der Düngemittelpreise zu einem Anstieg der Lebensmittelpreise um 44 Prozent geführt. Mittlerweile haben sich die Pestizidpreise verdoppelt, und synthetische Düngemittel kosten teilweise bereits das Vierfache. Dies setzt eine Spirale in Gang: Teurer Stickstoffdünger wird gespart, Ernteerträge sinken (wie auch Nitrat in Boden und Grundwasser), Lebensmittelpreise steigen. 

 

Bis zu 70 mal höhere Gewinne innerhalb eines Jahres sind nicht allein auf gestiegene Gaspreise zurückzuführen. Entwicklungshilfeorganisationen fordern eine Übergewinnsteuer. ©INKOTA Netzwerk, 2022

Der zusätzliche Preisanstieg bei fossilen Brennstoffen (in Deutschland um knapp 40 Prozent, unter anderem weil Erdöl in Dollar bezahlt wird und der Eurokurs sinkt) wirkt auf alle Güter und Dienstleistungen. Nahrungsmittelspekulation und Angebotsverknappung durch Vorratshaltung – denn nicht nur Menschen neigen in Krisenzeiten zu Hamsterkäufen – und Exportstopps einzelner Staaten wirken weiter preistreibend. In Ländern, wo Menschen über drei Viertel ihres Einkommens für Essen ausgeben, hat das tödliche Konsequenzen. 

Schließlich schlägt zudem auf der Südhalbkugel die Klimakrise gnadenlos zu. Fortschreitende Wüstenbildung hat ein Viertel der Ackerflächen bereits vernichtet. Schädlingsplagen und Ernteausfälle sowie verendete Viehbestände durch Dürrekatastrophen sind an der Tagesordnung. Mit den Nahrungsmittelpreisen auf einem Allzeithoch scheint das Ziel der Vereinten Nationen, den Hunger bis 2030 in der Welt besiegt zu haben, unerreichbar. 

Ökonomische Faktoren und Auswirkungen auf Weizenpreise

Sein Rekordhoch erreichte der Preis für konventionellen Brotweizen Ende Mai 2022 mit 440 Euro pro Tonne. Damit kostete er fast doppelt so viel wie ein Jahr zuvor, um bis Ende Juni wieder auf 350 Euro abzusacken. Grund ist der unflexible Agrarmarkt, denn da sowohl Angebot (begrenzte Agrarflächen) als auch Nachfrage (Bevölkerungszahl) keinen gewaltigen, raschen Schwankungen unterliegen können, reagiert der Preis schon auf kleinste Mengenausfälle extrem. Die Lücken bei Mehl und Sonnenblumenöl in deutschen Supermärkten waren jedoch kein Ausdruck von Lebensmittelknappheit, sondern ausschließlich das Ergebnis von Hamsterkäufen. Deutschland besitzt laut Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) bei Getreide tatsächlich einen 100-prozentigen Selbstversorgungsgrad. Wir beziehen weniger als 1 Prozent Weizen aus der Ukraine und fast keinen aus Russland.


Bio kostet nicht zu viel, sondern bildet schon immer transparenter die Kosten ab, die bei konventionellen Nahrungsmitteln vernachlässigt werden und uns heute, in der Krise, wieder einholen.


Wahre Preise ins Spiel bringen!

Da sich die Preise in festgelegten Korridoren bewegen, erhielten Öko-Betriebe nicht die Aufschläge ihrer konventionellen Kolleg*innen, und die Abstände verringerten sich auf 20 Prozent. Doch der Vorteil des Öko-Marktes, weitgehend unabhängig vom Weltmarktpreis zu sein und stabile, verlässlichere Erträge zu generieren, kommt bereits wieder zum Tragen. Zwar erzielt Bio-Brotweizen noch nicht wieder doppelt so hohe Preise, aber mit 530 Euro pro Tonne Ende Juni liegt der Aufschlag wieder bei 50 Prozent – Tendenz steigend. Doch die Preisfindung für die neue Ernte bleibt schwierig, denn die Bio-Vermarktung schielt erstmals seit Jahren intensiv auf die konventionellen Preise, und die explodierenden Kosten bei Energie, Transport und Betriebsmitteln treffen alle gleichermaßen; auch die Endkonsument*innen haben weniger Geld für Lebensmittel zur Verfügung.

 

Hier sollte die Bio-Branche jetzt ansetzen und die „Wahren Preise“ ins Spiel bringen. Konventionelle Produkte sind nämlich stärker von Preissteigerungen betroffen. Bio kostet nicht zu viel, sondern bildet schon immer transparenter die Kosten ab, die bei konventionellen Nahrungsmitteln vernachlässigt werden und uns heute, in der Krise, wieder einholen. Ökolandbau hingegen ist ressourcenschonend, klimafreundlicher und trägt zum Artenschutz bei. Damit ist er als gesetzlich verankerter und kontrollierbarer Systemansatz das Leitbild für die Agrarwende in Europa. Denn je näher die Landwirtschaft einem natürlichen Ökosystem kommt, desto widerstands- und anpassungsfähiger an die Erderhitzung und besser geschützt vor Extremwetterereignissen ist sie.

Die Deutschen leben „auf Pump“

Dass Menschen in reichen Ländern mehr Ressourcen verbrauchen als die Erde in einem Jahr regeneriert, illustriert das Konzept des Erdüberlastungstags. Die Deutschen verbrauchen dreimal so viel, wie ihnen zur Verfügung steht. Praktisch leben wir seit dem 4. Mai 2022 auf Pump von Ländern aus dem globalen Süden sowie künftiger Generationen. 

 

 

Die Zahlen des Weltbiodiversitätsrats (IPBES) machen deutlich, dass unser gegenwärtiges Ernährungssystem die Ernährungssicherheit der ganzen Menschheit aufs Spiel setzt. ©WWF 2021

Doch es gibt Lösungsansätze. Wie die Grafik zeigt, ist die weltweite Ernährung der stärkste Hebel, um Artenvielfalt zu erhalten und den Klimakollaps zu verhindern. Die EAT-Lancet-Kommission, ein internationales Team von Expert*innen aus Gesundheit, Landwirtschaft, Politik und Umwelt, hat 2019 die sogenannte „Planetary Health Diet“ veröffentlicht. Empfohlen ist eine flexitarische Ernährung, die es sogar schafft, 2050 rund zehn Milliarden Menschen 100-prozentig ökologisch zu versorgen. Als Faustregel gilt, den Konsum von Fleisch und Zucker zu halbieren und den Anteil von Obst, Gemüse, Nüssen und Hülsenfrüchten zu verdoppeln.

 

Essenziell dabei ist die Reduktion der Lebensmittelverschwendung. Derzeit wird rund ein Drittel der gesamten landwirtschaftlichen Produktion entsorgt. In Deutschland wandern 60 Prozent davon direkt vom Teller in die Tonne. In Entwicklungsländern geht derselbe Anteil bei der Primärproduktion verloren. Hier braucht es Investitionen in Lagermöglichkeiten, Verarbeitung und Transport.

Eine Ernährungswende bedeutet aber auch, die Nahrungskonkurrenz zwischen Tierfutter und Lebensmitteln abzumildern. Hier geht es um die Teller-Trog-Tank-Debatte. 

 

 

Neben knapp 10 Prozent für Biokraftstoffe und 20 Prozent für die menschliche Ernährung entfallen fast 60 Prozent des Getreideverbrauchs in Deutschland auf Tierfutter.

Ernährungssicherheit für sozialen Frieden

Im Fall von Bioethanol hat Bundesumweltministerin Steffi Lemke bereits angekündigt, die Beimischung bis 2030 auf Null zurückzufahren. Damit würde gut eine Million Hektar Anbaufläche frei. Hinsichtlich der Futterproduktion hat die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften folgendes interessante Szenario aufgestellt: „Würde man Nutztiere nur noch mit nicht essbarer Biomasse füttern, müsste man den Konsum von Schweinefleisch um 70 Prozent, den von Eiern um 95 Prozent und den von Geflügel sogar um 99 Prozent reduzieren. Bei Milch wären es nur 30, bei Rindfleisch 40 Prozent.“ Deshalb ist die Kuh eben keine Klimakillerin, denn über den Pansen kann aus Gras hochwertiges Eiweiß werden, und der Methanausstoß pro Liter Milch sinkt, je gesünder die Milchkuh ist und je länger sie lebt. Ergo, mehr Tierwohl ist klimafreundlich! 

 

Fakt ist, dass Fleisch hierzulande ein Kulturgut ist und in gewissem Umfang zur Ernährung gehört. Dennoch ist es mit etwas Kochkenntnis und Gewürzwissen möglich, sich auch öfter ohne tierische Produkte kulinarisch köstlich zu ernähren. Wichtig ist dabei jedoch anzuerkennen, dass Menschen grundsätzlich eher bereit sind, Einschränkungen zu akzeptieren, wenn sie wissen, dass sich alle beteiligen. Wenn Krisen aber von Einzelnen genutzt werden, um Übergewinne zu generieren, ist nicht nur die Ernährungssicherheit, sondern auch der soziale Frieden in Gefahr. Ernährungssicherheit ist vielleicht die beste friedenserhaltende Maßnahme überhaupt.

 

Von Jana Werner

Weiterführende Links:

[1] BÖLW et al., 2021: Appell an die künftige Bundesregierung mit zehn Forderungen, u.a. der Schaffung einer Zukunftskommission Ernährung; https://www.boelw.de/news/ernaehrungswende-anpacken/

[2] WWF, 2022: Rezepte für Wochenmenüs anhand der Planetary Health Diet; jeweils vegan, vegetarisch und flexitarisch (mit wenig Fleisch); https://www.wwf.de/themen-projekte/landwirtschaft/ernaehrung-konsum/besseresserinnen/die-wochenmenues

[3] INKOTA, 2022: „Studie: Goldkugel oder Krisenverstärker? Neue Abhängigkeiten von synthetischen Düngemitteln und ihre Folgen für den afrikanischen Kontinent“; Download kostenlos: https://webshop.inkota.de/node/1687